Jetzt neu erschienen

Aus der Hamburger Kompositionsklasse von György Ligeti sind Komponistinnen und Komponisten mit ganz unterschiedlichen Stimmen hervorgegangen. Für ein gemeinsames Buch haben viele von ihnen ihre Erinnerungen an den Lehrer und an die musikalischen Fragen, die in der Klasse verhandelt wurden, zusammengetragen. 

Mit freundlicher Genehmigung des herausgebenden Teams (Manfred Stahnke, Sidney Corbett, Hubertus Dreyer, Hans Peter Reutter, Wolfgang-Andreas Schultz und Mari Takano) veröffentlichen wir das Vorwort zu dem Buch, das Anfang Mai in einer zweisprachigen Ausgabe (Deutsch/Englisch) erschienen ist. 

Vorwort: György Ligeti und seine Klasse

György Ligeti ist immer ein in einem mehrdimensionalen Feld aufgespannter Komponist gewesen. Das Alte und das Neue in Musik, besser gesagt, im Kunst- und Wissenschaftsdenken allgemein, waren für ihn engste Vertraute, begeisternde Vertraute, und alles Neue musste weiter entwickelt werden. Nichts Neues gab es dabei für ihn ohne tiefe Beziehung zum Alten. Und die Kraft des Alten galt es, hineinzuschmelzen in neue Ideen. Das war auch seine Marterbank. Seine Hamburger Schüler haben diesen großen Suchenden, diesen verzweifelt Suchenden tief erlebt. Und er hat uns hineingesogen in die extreme Notwendigkeit, nächste Schritte zu gehen, und uns in einem großen Spiel aufgefordert, mitzuforschen.

Sehr viele von György Ligetis Schülern haben für dieses Buch zusammengewirkt. Einige haben sich zusammengefunden, die Herausgeberschaft zu übernehmen. Und untereinander fanden sich vielfach Verbindungen, die Texte gegenzulesen und zu redigieren. Das hat die Arbeit an dem Buch durch die Verteilung auf viele Schultern sehr angenehm gemacht. Es ist ein bunter Strauß von Artikeln entstanden, die teils erstaunliche Einsichten in die Person, den Lehrer, den Komponisten György Ligeti ermöglichen, teils sich gegenseitig verstärkend, insgesamt viele Aspekte einbeziehend, die einer von außen kommenden Musikwissenschaft kaum zugänglich sind.

Wir, die Herausgeber, haben uns überlegt, wie der Zeitraum der Tätigkeit Ligetis in Hamburg von 1973 bis 1989 und darüber hinaus mit den vielfarbigen Beiträgen am besten in diesem Buch abzubilden sei. Es wäre einfach gewesen, das zeitliche Erscheinen seiner Schüler und Schülerinnen zur Formgebung des Buches zu nutzen. Die Schwierigkeit dabei war, dass etliche seiner Schüler über einen langen Zeitraum in der Klasse erschienen oder Ligetis Privatschüler waren. Es ergab sich so, dass die ersten, wie Wolfgang von Schweinitz von 1973 an, zwar ganz zu Anfang in diesem Buch stehen, sich aber gesprächsweise verbinden mit späteren bis hin zu Georg Hajdu, der als Gast vielfach in den 80er Jahren auftauchte. Auch Renate Birnstein kam schon 1973 und war, ähnlich wie Manfred Stahnke ab 1974, bis zu Ligetis Pensionierung 1989 ein immer wieder auftauchender Gast, auch dann in privaten Treffen mit Ligeti bei Familie Stahnke. Ähnlich ist Hans-Christian von Dadelsen, offiziell in der "Klasse" seit 1975, bis in die späten 90er Jahre in stetem Kontakt mit Ligeti geblieben, immer wieder an den Gruppentreffen teilnehmend. Wolfgang-Andreas Schultz war ab 1977 für die Klasse durchgehend tätig als Assistent Ligetis für den Kontrapunkt- und Musiktheorie-Unterricht und kam zu allen privaten Ligetitreffen 1985, 1994 und 2000 zu den Stahnkes.

So gibt die Reihenfolge der Artikel nur sehr ungefähr das zeitliche Zueinander der Gruppenmitglieder wieder. Wir als Herausgeber haben auch nicht alle dazu animieren können, Artikel zu diesem Buch beizusteuern. Es fehlen Namen wie Roberto Sierra, der Material aus der Karibik oder aus Afrika (Banda Linda Hornmusik) beisteuerte und wesentlich zum stilistischen Wechsel Ligetis in die 80er Jahre hinein beitrug, oder Denys Bouliane, der intensive Interviews mit Ligeti führte. Es wäre schön gewesen, auch Unsuk Chin dabei gehabt zu haben, die in ihrem Werk eine tiefe Beziehung zum Denken György Ligetis entwickelt hat, man schaue nur auf ihre Oper Alice oder auf ihre Solokonzerte für Violine oder Klavier. Sid McLauchlan, der Ehemann von Ligetis Mitarbeiterin Louise Duchesneau, war kurzzeitig in der Klasse, wechselte dann aber zum Tonmeisterberuf.

Ligetis stilistischer Umbruch, vorgeformt durch klitzekleine Cembalowerke wie Hungarian Rock und Passacaglia ungherese, manifest dann ab dem Horntrio, wird bei Dadelsen beschrieben. Dieser Stilwechsel beeinflusste die gesamte Klasse der 80er Jahre und forderte uns extrem dazu auf, neue Aspekte von komponierter Musik zu entwickeln, hin zu Jazz, hin zu mittelalterlicher Musik, hin zu nicht-europäischen Denkweisen. Aber auch Mathematik mit ihren damals für uns neuen fraktalen Denkmöglichkeiten wurde diskutiert. Gäste wie Peter H. Richter kamen, das zu erläutern. Es kamen die Ethnologen Gerhard Kubik und Simha Arom. Die Musikwissenschaftlerin Annette Kreutziger-Herr brachte Ciconia und die ars subtilior-Spezialistin Ursula Günther die erstaunlichen Polymetren um 1400.

So spiegelt sich in der Entwicklung der "Klasse" zweierlei wieder: In den 70er Jahren wurde ein erster Ausstieg aus den Denkansätzen der Köln-Darmstädter Avantgarde unternommen. Dadelsen beschäftigte sich mit Bob Dylan und Popmusik, siehe seinen Artikel in diesem Buch. Schweinitz unternahm Ausflüge in die Musikgeschichte (Mozart-Variationen). In Ligetis Oper Le Grand Macabre spiegeln sich vielfach diese Kreuzbeziehungen. Ab dem Ende der 70er Jahre wurde es Ligeti immer klarer, dass die Errungenschaften der alten Avantgarde tot waren. Er suchte Wege, pulsative Rhythmik wiederzugewinnen, parallel dazu auch eine hörend verfolgbare, nicht anonymisierte Melodik und Harmonik. Hierhin gehören die vehementen Diskussionen in der Klasse über Minimalismus, Jazz, Pop, Mikrotonalität, nicht-europäische Musik und auch europäische Musikgeschichte, an denen viele von uns eher lauschend teilnahmen und zu eigenen Lösungen fanden.

In den 80er Jahren hatte Ligeti, parallel zu sehr tiefen stilistischen Auseinandersetzungen in seiner Klasse, dann das Prozessdenken aus der Avantgarde gänzlich über den Haufen geworfen. Die Drei Stücke für zwei Klaviere (1976) erscheinen in ihrem quasi-seriellen, mechanistischen Aufbau im ersten Satz wie ein Endpunkt. Fortan geht es um metrische Muster, die bis in Ligetis frühe Erlebnisse balkanesischer Musik zurückreichen, dann auch Musik außerhalb Europas integrierend. Gleichzeitig findet Ligeti allmählich Wege, von der 12ton-Temperierung wegzukommen. Das ist bei ihm ein langer Prozess, der auch naturreine Stimmung integriert vom Horntrio (1982) an bis hin zum Hamburgischen Konzert (1999-2001). Ligeti verfolgte seit 1972 das Denken Harry Partchs. Er spielte dessen Platten 1974 vor, ohne dass er selbst intensiv an naturreine Stimmung dachte, wohl aber an Zwischentöne, siehe etwa sein Doppelkonzert (1972). Stahnke brachte 1980 seine Erfahrungen aus dem Harry Partch-Umfeld, besonders vermittelt durch Ben Johnston, in die Klasse. Naturreine Stimmungsansätze vermehrten sich bei Ligeti dann von Konzert zu Konzert, erst für Klavier, dann für Violine, dann für Horn, dort ins Extrem hinein.

Das in den 80er Jahren entstehende Denken Ligetis spiegelt sich in Werken seiner Schüler dieser Zeit wieder, wobei es Ausnahmen gab wie Uroš Rojko, der weitläufig zunächst bei der Stilistik der Freiburger Schule blieb. Detlev Müller-Siemens beschäftigte sich mit Jazz in Under Neonlight. Die letzte Gruppe von Schülern und Gästen mit Mari Takano, Hubertus Dreyer, Hans Peter Reutter, Sidney Corbett, Benedict Mason, Xiaoyong Chen, Kiyoshi Furukawa und Unsuk Chin behandelte mit ganz unterschiedlichen Schwerpunkten ein weitgespanntes Denken um rhythmische Pulsation, Polymetrik, Fraktalität, Mikrotonalität, Integration von Grafik, Improvisation, Pop und Jazz.

Jedoch gehörte zu Ligetis pädagogischem Ansatz immer das Sich-Selbst-Finden für alle. So gibt es ganz unterschiedliche Stilistiken und Philosophien, was Musik sein könnte, teils auch fern von Ligeti, bei Schülern wie Renate Birnstein, Jeanne Zaidel-Rudolph, Malcolm Singer, Tamae Okatsu, Wolfgang-Andreas Schultz, Friedrich Jaecker, Michael Daugherty, John (Johann Maria) Gropp, Momoko Oya, Altug Ünlü, Mike Rutledge.

Einige damals Studierende haben sich aus ganz unterschiedlichen Gründen oder nicht verlautbarten Gründen nicht direkt an diesem Buch beteiligt. So schreibt Volker Helbing gerade ein Buch über Ligetis Violinkonzert und ist stark absorbiert. Babette Koblenz erscheint mit in Dadelsens Beitrag. Gary Greenberg und Eberhard Müller-Arp konnten wir nicht ausfindig machen. Jenő Márton, der feinsinnige und leise Mensch, ist verstorben. Einige wenige haben sich überhaupt nicht gemeldet oder deutlich abgesagt.1 Eine große Freude ist uns, dass Lukas Ligeti mitmacht, der immer wieder zu einigen von den Schülern György Ligetis Kontakt hält. Wir glauben, dass im Querschnitt aller Artikel Ligetis Persönlichkeit nachgezeichnet wird, zumindest in den Aspekten, die uns zugänglich waren. Überraschend tauchen immer wieder neue Facetten dieser komplexen Persönlichkeit auf.

György Ligeti
im Spiegel seiner Hamburger Kompositionsklasse
through a glass, and darkly, but face to face

(ed.) Manfred Stahnke, Sidney Corbett, Hubertus Dreyer, Hans Peter Reutter, Wolfgang-Andreas Schultz, Mari Takano

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