Études pour piano

Titel
Études pour piano
Deuxième livre
Category
Solowerk
Klavier
Dauer
23:00
Anzahl Mitwirkende
1
Entstehung
1988
Uraufführung
1989-09-23
VII und VIII: Berliner Festwochen · Volker Banfield, Klavier
05.05.1990
IX: Gütersloh · Volker Banfield, Klavier
23.05.1993
XIII: Schwetzinger Festspiele · Volker Banfield, Klavier
06.10.1994
X: Strasbourg · Pierre-Laurent Aimard, Klavier
14.10.1994
XIVa: Donaueschingen · Jürgen Hocker, mechanisches Klavier
07.11.1994
XI: Paris · Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Satzangaben
VII Galamb borong (1988/89)
VIII Fém (1989)
IX Vertige (1990)
X Der Zauberlehrling (1994)
XI En suspens (1994)
XII Entrelacs (1993)
XIII L’escalier du diable (1993)
XIV Coloana infinită (1993)
XIVa (Anhang) Coloana fără sfârşit (für mechanisches Klavier) (1993)
Audio
Copyright

György Ligeti Edition Vol. 3 © 1996 Sony Music Entertainment Inc./ ℗ 1996 Sony Classical
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Kommentare des Komponisten zum Werk

Wie kam ich auf die Idee, hochvirtuose Klavieretüden zu komponieren? Der auslösende Umstand war vor allem meine ungenügende pianistische Technik. Das einzige Musikinstrument, das in meiner Kindheit in unserer Wohnung stand, war ein Grammophon. Ich verschlang Musik von Schallplatten. Erst als ich vierzehn Jahre alt war, konnte ich bei meinen Eltern durchsetzen, dass ich Klavierunterricht bekam. Da wir kein Klavier besaßen, ging ich täglich zu Bekannten, um zu üben. Als ich fünfzehn war, mieteten wir schließlich einen Flügel. Ich wäre so gern ein fabelhafter Pianist! Ich verstehe viel von Anschlagsnuancen, Phrasierung, Agogik, vom Aufbau der Form. Und ich spiele leidenschaftlich gerne Klavier – doch nur für mich selbst. Um eine saubere Technik zu bekommen, muss man mit dem Üben noch vor dem Eintritt der Pubertät beginnen. Diesen Zeitpunkt habe ich aber hoffnungslos verpasst.

Meine – bislang sechzehn – Etüden (ich möchte noch weitere schreiben!)1 sind also das Ergebnis meines Unvermögens. Cézanne hatte Schwierigkeiten mit der Perspektive. Die Äpfel und Birnen in seinen Stilleben scheinen jeden Augenblick wegrollen zu wollen. In seiner eher linkischen Darstellung der Wirklichkeit bestehen die gefalteten Tischdecken aus starrem Gips. Und trotzdem: Welches Wunder hat Cézanne mit seinen Farbharmonien vollbracht, mit der emotional durchseelten Geometrie, mit seinen Rundungen, Volumina, Gewichtsverlagerungen! So etwas möchte ich anstreben: die Verwandlung von Ungenügen in Professionalität.

Ich lege meine zehn Finger auf die Tastatur und stelle mir Musik vor. Meine Finger zeichnen dieses mentale Bild nach, indem ich Tasten niederdrücke, doch die Nachzeichnung ist sehr ungenau: Es entsteht eine Rückkopplung zwischen Vorstellung und taktil-motorischer Ausführung. So eine Rückkopplungsschleife wird, angereichert durch provisorische Skizzen, sehr oft durchlaufen. Ein Mühlrad dreht sich zwischen meinem inneren Gehör, meinen Fingern und den Zeichen auf dem Papier. Das Ergebnis klingt ganz anders als meine ersten Vorstellungen: Die anatomischen Gegebenheiten meiner Hände und die Konfiguration der Klaviertastatur haben meine Phantasiegebilde umgeformt. Auch müssen alle Details der entstehenden Musik kohärent zusammenpassen, wie Zahnräder ineinandergreifen. Die Kriterien dafür befinden sich nur zum Teil in meiner Vorstellung, zum Teil stecken sie auch in der Klaviatur – ich muss sie mit der Hand erfühlen.

Da in adäquater Klaviermusik taktile Konzepte fast so wichtig sind wie akustische, berufe ich mich auf die vier großen Komponisten, die pianistisch dachten: Scarlatti, Chopin, Schumann, Debussy. Eine Chopin‘sche Melodiewendung oder Begleitfigur fühlen wir nicht nur mit unserem Gehör, sondern auch als taktile Form, als eine Sukzession von Muskelspannungen. Der wohlgeformte Klaviersatz erzeugt körperlichen Genuss. Eine Quelle solcher akustisch-motorischen Genüsse ist die Musik vieler afrikanischer Kulturen südlich der Sahara. Das polyphone Zusammenspiel mehrerer Musiker am Xylophon – in Uganda, in der Zentralafrikanischen Republik, in Malawi und an anderen Orten – sowie das Spiel eines einzigen Ausführenden am Lamellophon (Mbira, Likombe oder Sanza) in Simbabwe, in Kamerun und in vielen anderen Gegenden haben mich veranlasst, ähnliche technische Möglichkeiten auf den Klaviertasten zu suchen. (Viel verdanke ich dabei den Aufnahmen und theoretischen Schriften von Simha Arom, Gerhard Kubik, Hugo Zemp, Vincent Dehoux und mehreren anderen Ethnomusikologen.) Zwei Einsichten waren für mich wesentlich: zum einen die Denkweise in Bewegungsmustern (unabhängig vom europäischen Taktdenken), zum anderen die Möglichkeit, aus der Kombination von zwei oder mehreren realen Stimmen illusionäre melodisch-rhythmische Konfigurationen zu gewinnen (die gehört, doch nicht gespielt werden), analog etwa zu Maurits Eschers »unmöglichen« perspektivischen Gestalten.

Weitere Einflüsse, die mich bereicherten, stammen aus der Geometrie (die Musterdeformation in der Topologie und selbstähnliche Gebilde in der fraktalen Geometrie), wobei ich Benoît Mandelbrot und Heinz-Otto Peitgen wesentliche Anregungen verdanke. Und dann meine Bewunderung für Conlon Nancarrow! Aus seinen Studies for Player Piano habe ich rhythmische und metrische Komplexität gelernt. Er hat aufgezeigt, dass es Räume für rhythmisch-melodische Subtilitäten gibt, die weit außerhalb der Grenzen liegen, die wir bisher in der »modernen Musik« kannten. Ferner spielte für mich die Jazzpianistik eine große Rolle, vor allem die Poesie von Thelonius Monk und Bill Evans. Die Etüde »Arc-en-ciel« ist fast ein Jazzstück.

Doch sind meine Etüden weder Jazz noch Chopin-Debussy-artige Musik, auch nicht afrikanisch, nicht Nancarrow und keinesfalls mathematische Konstrukte. Ich habe von Einflüssen und Annäherungen geschrieben, was ich aber komponiere, lässt sich schwer einordnen. Es ist weder »avantgardistisch« noch »traditionell«, nicht tonal und nicht atonal – und keinesfalls postmodern, da mir die ironische Theatralisierung der Vergangenheit fernliegt. Es sind virtuose Klavierstücke, Etüden im pianistischen wie im kompositorischen Sinne. Sie gehen stets von einem sehr einfachen Kerngedanken aus und führen vom Einfachen ins Hochkomplexe: Sie verhalten sich wie wachsende Organismen.

1 Insgesamt sind achtzehn Etüden entstanden (Anm. 2006).

Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 3, »Works for Piano«, SK 62308), 1996.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 288-289. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

Études pour piano – Deuxième livre (Notizen zu einzelnen Etüden)

»Galamb borong« (Nr. 7)

Der Titel der siebten Etüde »Galamb borong« evoziert eine imaginäre gamelanartige Musik, beheimatet auf einer fremden Insel, die auf keiner Landkarte zu finden ist. Für denjenigen, der ungarisch versteht, wird der Titel auch eine ganz andere Bedeutung haben, doch ist sie für die Eigenart der Musik irrelevant – wesentlich ist nur der Wortklang des Titels.

Die Musik selbst ist in einem »schräg äquidistantialen« Tonsystem komponiert. Die gängige Klavierstimmung lässt die zwölftönige und die sechstönige Äquidistantialität zu, nicht aber die fünftönige (wie im javanischen Slendro), deren Intervalle in der temperierten Stimmung unauffindbar sind. Nun habe ich jedoch eine andere Art von »Slendro-Klangwelt« ersonnen, die weder chromatisch noch diatonisch, aber auch nicht ganztönig ist: Sie ist in der üblichen temperierten Klavierstimmung versteckt vorhanden, wurde aber vor »Galamb borong« nicht zu Gehör gebracht.

»Fém« (Nr. 8)

Anders als bei der siebten Etüde ist der Titel der achten Etüde, das ungarische Wort »Fém«, nicht nur klanglich, sondern auch von seiner Bedeutung her für das Stück relevant. Die Musik hat einen metallisch-harten Charakter, harmonisch dominiert von der Quinte, aber auch von anderen Obertönen. »Fém« ist das ungarische Wort für »Metall«, doch hat es eine emotional intensivere Aura als das deutsche (französische, englische) Wort, denn in »fém« klingt »fény«, das ungarische Wort für »Licht« an. »Fém« hat für den Ungarisch Sprechenden einen helleren, leuchtenderen Klang als »Metall«.

»Vertige« (Nr. 9)

Eine meiner kompositorischen Intentionen ist die Erzeugung eines illusionären musikalischen Raumes, in dem sich das, was ursprünglich Zeit und Bewegung war, als etwas Zeitloses und Unbewegliches darstellt.

Die Grundidee der neunten Etüde ist ein ständiges Abgleiten und Einstürzen, wobei der zeitliche Vorgang eingefroren, das Einstürzen zu einem Zustand wird. Technisch bilden abwärts laufende chromatische Skalen die Basis des Stückes. Doch bevor noch ein solcher Lauf beendet ist, beginnt schon der nächste, sodass eine Interferenz von Wellenbewegungen entsteht – die einzelnen Wellen überschlagen sich. Die chromatischen Läufe sind zwar in sich regelmäßig, doch ergibt ihre Kombination, aufgrund der ständig wechselnden Einsatzabstände, ein chaotisches Muster. Unsere Wahrnehmung pendelt, wie bei einem Vexierbild, zwischen den Läufen als Bewegung und ihrer Interferenz als statischem Bild.

»Coloana infinită « (Nr. 14)

Der Titel »Coloana infinită« bezieht sich auf eine sehr hohe, säulenartige Skulptur des großen rumänischen Bildhauers Constantin Brâncuşi. Sie steht in der Stadt Târgu-Jiu im Südwesten der Karpaten.

Der Kommentar zu den Etüden Nr. 7 und 8, datiert »Wien, 1. September 1989«, entstand als Einführungstext zur Uraufführung am 23. September 1989 im Rahmen der Berliner Festwochen, der zu Nr. 9, datiert »März 1990«, als Einführungstext zur Uraufführung am 5. Mai 1990 im Rahmen des Festivals »Hommage à György Ligeti« in Gütersloh. Die Titelerläuterung zu Nr. 14 wurde dem Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical entnommen (György Ligeti Edition 3, »Works for Piano«, SK 62308), 1996.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 293-294. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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