San Francisco Polyphony

Titel
San Francisco Polyphony
für Orchester
Category
Orchester
Dauer
11:00
Anzahl Mitwirkende
71
Besetzung
3 (1. auch Afl. in G, 2. u. 3. auch Picc.) · 3 (2. auch Ob. d'am., 3. auch Engl. Hr.) · 3 (2. auch Klar. in Es, 3. auch Bassklar.) · 2 · Kfg. - 2 · 2 · Tenorpos. · Tenor-Basspos. · Basstb. - S. (gr. Tr. · Peitsche · Tamt. · Glsp. · Vibr. · Xyl.) (2 Spieler) - Hfe. · Klav. (auch Cel.) - Str. (12 · 12 · 10 · 8 · 6)
Entstehung
1973
Uraufführung
1975-01-18
San Francisco · San Francisco Symphony Orchestra · Dir.: Seiji Ozawa
Audio
Copyright

György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580

Kommentare des Komponisten zum Werk

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre habe ich meinen musikalischen Stil allmählich verändert. Während meine Musik in den späten fünfziger Jahren auf der Technik der »Mikropolyphonie«, das heißt der engen Verschlingung von Instrumental- und auch Vokalstimmen beruhte, habe ich etwa seit Mitte der sechziger Jahre eine transparentere Polyphonie entwickelt, die klarer gezeichnet, dünner und spröder ist. Die statischen, opaken Klanggewebe wurden immer stärker durchleuchtet; divergente, heterogene, kontrastierende musikalische Bewegungsabläufe nisteten sich in die komplexen Klangnetze ein.

Typisch für diese neue »durchsichtige« Polyphonie sind etwa die Zehn Stücke für Bläserquintett (1968) und das Kammerkonzert für dreizehn Instrumentalisten (1969–70). Im Orchesterstück Melodien (1971) bin ich noch einen Schritt weiter gegangen: Die Einzelstimmen werden zu geschlossenen melodischen Gestalten geformt, und mehrere dieser divergenten Einzelstimmen erklingen gleichzeitig, doch in unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher metrisch- rhythmischer Artikulation.

Das Orchesterstück San Francisco Polyphony bildet gleichsam den Endpunkt dieser stilistischen Entwicklungslinie Bläserquintett–Melodien, hier habe ich die neue Polyphonie am konsequentesten realisiert. Der Titel verweist einerseits auf die kompositorische Technik (Polyphony), andererseits auf den Ort der Uraufführung (San Francisco) – das Stück wurde zum sechzigjährigen Bestehen des San Francisco Symphony Orchestra geschrieben und von diesem Orchester am 8. Januar 1975 unter der Leitung von Seiji Ozawa uraufgeführt.

Im Vergleich mit der sanften, fast schönen Musik des älteren Orchesterstücks Melodien ist San Francisco Polyphony trockener, herber, graphischer im Duktus der melodischen Linien. Die Divergenz der einzelnen Melodielinien ist noch größer, ihr Verschmelzungsgrad niedriger. In beiden Orchesterstücken gibt es einen übergeordneten Formverlauf, eine genau geplante Intervallik und Harmonik, die die heterogenen Melodiestimmen nach Art eines Magnetfelds ordnet (die Melodien sind zwar heterogen, doch mehr oder weniger eng aneinandergeschmiegt, und sie werden von bestimmten, im Laufe des Stückes sich verändernden Intervallstrukturen beherrscht), doch ist in San Francisco Polyphony die Divergenz der Melodielinien stärker als die verschmelzende harmonische Ordnung. Es entsteht eine Art Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos: Die einzelnen melodischen Linien und Gestalten sind in sich geschlossen und wohlgeordnet, ihre simultane wie sukzessive Kombination dagegen ist chaotisch, und in der Großform schließlich, im übergeordneten Ablauf des musikalischen Geschehens manifestiert sich wiederum Ordnung. Man stelle sich vor, dass einzelne Gegenstände in riesiger Unordnung in eine Schublade geworfen wurden, die selbst jedoch eine genau umrissene Form hat: In ihr herrscht Chaos, sie selbst aber ist wohlgestaltet.

Einführungstext von 1975, publiziert in: Schott aktuell. Mitteilungen des Musikverlages B. Schott’s Söhne Mainz, Dezember 1975.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 265-266. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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