Klavier
Sundsvall (S) · Liisa Pohjola, Klavier
I Sostenuto · Misurato · Prestissimo
II Mesto, rigido e ceremoniale
III Allegro con spirito
IV Tempo di valse (poco vivace · “à l’orgue de Barbarie”)
V Rubato. Lamentoso
VI Allegro molto capriccioso
VII Cantabile, molto legato
VIII Vivace. Energico
IX (Béla Bartók in memoriam) Adagio. Mesto · Allegro maestoso
X Vivace. Capriccioso
XI (Omaggio a Girolamo Frescobaldi) Andante misurato e tranquillo
Um 1950 wurde mir klar, dass eine Weiterentwicklung des nachbartókschen Stils, in dem ich bis dahin komponiert hatte, mich nicht vorwärtsbringen würde. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und lebte in Budapest völlig isoliert von allen Ideen, Trends und Techniken der Komposition, die sich nach dem Krieg in Westeuropa entwickelt hatten. 1951 begann ich, mit einfachen rhythmischen und klanglichen Strukturen zu experimentieren, um eine »neue Musik« sozusagen aus dem Nichts aufzubauen. Alle Musik, die ich bis dahin kannte und liebte, betrachtete ich als irrelevant für mich. Ich fragte mich, was kann ich mit einem einzelnen Ton, was mit seiner Oktave tun, was mit einem Intervall, mit zwei Intervallen, mit bestimmten rhythmischen Verhältnissen. Auf diese Weise entstanden mehrere kurze Stücke, vorwiegend für Klavier. Aus meinen Fragen und Lösungsversuchen entwickelten sich einige Charakteristika, die seriellen Ideen nicht unähnlich waren. Das scheint mir insofern bemerkenswert, als ich von einem ganz anderen Ausgangspunkt und auf einem ganz anderen Weg dahin gelangte als die Komponisten im Westen. Als ich in den Westen kam, war mir Schönbergs Zwölftontechnik, ganz zu schweigen von der Weberns, völlig unbekannt.
Im ersten Satz der Musica ricercata wird ein einziger Ton, ein a, verwendet, das in verschiedenen Oktavlagen und Kombinationen erscheint und nur am Ende von einem d begleitet wird. Im zweiten Satz gibt es drei Töne, im dritten vier, im vierten fünf und so fort, bis alle Töne der chromatischen Skala im elften und letzten Satz erscheinen, der ursprünglich als Ricercar für Orgel mit dem Titel »Omaggio a Girolamo Frescobaldi« geschrieben wurde.
Einführungstext für eine Aufführung am 13. Januar 1978 im Rahmen der Konzertreihe Das neue Werk des Norddeutschen Rundfunks Hamburg. Vgl. auch »Bericht zur eigenen Arbeit«, in dieser Ausgabe, Bd. 2, S. 75–77.
Über Musica ricercata
Diese elf Klavierstücke gehören stilistisch noch zum »prähistorischen« Ligeti, ich komponierte sie 1951–52, als ich noch relativ jung war. Damals lebte ich in Budapest, und aufgrund der dortigen politischen Situation war ich völlig isoliert von allem, was in der »westlichen« Musik geschah. Meine damaligen Ideale waren Bartók und Strawinsky, denn ihre Musik war die modernste, die ich kannte. So ist der Stil dieser beiden Komponisten in meinen Klavierstücken spürbar, obwohl ich hoffe, dass einige – etwa das letzte oder die beiden ersten – schon einen eigenen Stil aufweisen. Zu jener Zeit begann ich, mich von der Tradition Bartóks und Strawinskys zu lösen, doch einen ganz neuen Weg einschlagen konnte ich erst im Sommer 1956, kurz bevor ich Ungarn verließ.
Der Titel Musica ricercata verweist eben auf diesen »Versuch«, nämlich mit der Tradition zu brechen und etwas Neues zu machen. Zugleich ist das letzte Stück – über ein modifiziertes Motiv von Frescobaldi – formal einem Ricercar verwandt, das heißt einer fugenähnlichen kompositorischen Gattung aus der vor-barocken Zeit. Das Stück ist absichtsvoll monoton: Mit der monotonen rhythmischen Struktur wollte ich die polyphone Technik ausgleichen, die Polyphonie also quasi beseitigen. »Omaggio a Girolamo Frescobaldi«, so der Titel, ist ein rigides, fast erhabenes Stück, ambivalent in seiner Schulmäßigkeit und Tiefsinnigkeit: Ernst und Karikatur zugleich.
Der »Versuchs«-Charakter des Werkes besteht auch darin, dass ich mir selbst Aufgaben mit strengen Regeln gestellt habe, so etwa im ersten Stück: Was kann ich aus einem einzigen Ton und seinen Oktavtranspositionen machen (der zweite Ton kommt erst am Schluss hinzu). Das zweite Stück ist aus drei verschiedenen Tönen entwickelt, im dritten beschränke ich mich auf vier Töne (c, es, e, g, also nur einen Dur- und einen Molldreiklang), und so geht es weiter: In jedem Stück wird die Anzahl der Töne um einen erhöht, das elfte und letzte Stück basiert also auf zwölf Tönen (freilich keiner »Reihe«, denn ich kannte Schönberg damals noch nicht). Die Statik der ersten drei Stücke ist jenes stilistische Merkmal, das dann charakteristisch wurde für die »echten« Ligeti-Kompositionen, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre entstanden sind.
Undatierte Programmnotiz. Original in ungarischer Sprache, deutsche Übersetzung von Éva Pintér. Revidiert und ergänzt 2002.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 154-155. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014