Chor a cappella
17.11.1983
III: Metz · Rencontres Internationales de Musique Contemporaine · Schola Cantorum Stuttgart · Dir.: Clytus Gottwald
II 49. Etüd/40. Etüd
III 90. Etüd (Vásár [Jahrmarkt]
Magyar etüdök wurde 1983 komponiert und im selben Jahr durch Clytus Gottwald und die Schola Cantorum Stuttgart uraufgeführt. Stilistisch gehören diese Chorstücke zu meiner »neuen Periode« einer stark affektiven, kontrapunktisch und metrisch hochkomplexen, labyrinthisch verästelten Musik mit durchhörbaren melodischen und harmonischen Gestalten, doch ohne jeglichen »Zurück zu«-Gestus, nicht tonal, aber auch nicht atonal.
Sándor Weöres hat unter mehreren tausend kurzen »experimentellen« Gedichten mehr als hundert mit dem Titel Magyar etüdök veröffentlicht. Es handelt sich gleichsam um poetische Momentaufnahmen von Alltagsgeschehnissen – der experimentelle Gestus betrifft die Behandlung der Rhythmik und Metrik und des Assoziations- oder Konnotationsfeldes der ungarischen Sprache. In der Vertonung einiger dieser kleinen Gedichte habe ich versucht, die spielerisch-experimentelle Haltung Weöres’ in der musikalischen Konstruktion nachzubilden. Das erste der drei kurzen Chorstücke beschreibt das Auftauen eines Eiszapfens: Die kristalline Struktur eines komplexen Kanon-Gebildes (zwölfstimmiger Proportionskanon in der metrischen Proportion drei zu zwei, gleichzeitig zwölfstimmiger Spiegelkanon auf allen zwölf Stufen der Chromatik) löst sich allmählich auf, lange Liegetöne bilden sich, das tröpfelnde Eis verwandelt sich in eine Wasserlache. Im zweiten Stück werden zwei verschiedene kurze Gedichte ineinander montiert, ein madrigaleskes Froschkonzert erklingt im Straßengraben. Das dritte Stück entfaltet simultan fünf Temposchichten, entsprechend fünf verschiedenen kurzen Gedichten: Diese kurzen Texte evozieren das lustige Durcheinander eines Jahrmarkttrubels mit schreienden Verkäufern, Zirkuselefanten, Besoffenen, Ausrufern. Der Chor ist in fünf räumlich getrennte Gruppen aufgeteilt, deren unterschiedliche Tempoverläufe dank eines gemeinsamen Nenners in der Taktgebung koordiniert werden können (polymetrische Technik von Charles Ives). Die fünf musikalischen Schichten – zwei davon einstimmig, drei zweistimmig, sodass sich eine Achtstimmigkeit ergibt – schmelzen ineinander zu einem gemeinsamen harmonischen Feld (Ganztonakkord mit Tonalitäts- beziehungsweise Modusschwankungen durchsetzt).
Einführungstext zur Aufführung im Rahmen des Musikprotokolls im Steirischen Herbst Graz am 4. Oktober 1984.
Zu Magyar etüdök
Magyar etüdök für Chor a cappella schrieb ich 1983 auf Texte des großen ungarischen Dichters Sándor Weöres. Es handelt sich um extrem konstruktivistische Werke. Das erste Stück ist ein Proportionskanon samt seinem Spiegelkanon (doppelchörig und zwölfstimmig). Das zweite, entfernt folkloristisch, kombiniert zwei kurze Gedichte zu einer Einheit und spielt mit Echowirkungen von verschiedenen Verschwommenheitsgraden. Dieser Satz ist ebenfalls doppelchörig, aber sechzehnstimmig. Das dritte Stück, mit dem Untertitel »Jahrmarkt«, ist achtstimmig und besteht aus fünf verschiedenen, unabhängigen Geschwindigkeitsschichten, die sich zu einer komplexen polyrhythmischen Struktur vereinigen.
Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 2, »A Cappella Choral Works«, SK 62305), 1996.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 286-287. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014